Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union

Eine tschechische Perspektive

Konferenz der Otto Brenner Stiftung

Berlin, 3. & 4. Mai 2001

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Mit meinem heutigen Beitrag möchte ich Ihnen einige Eindrücke aus dem Blickwinkel eines politischen Beobachters geben, der selbst über mehrere Jahre für die Europäische Kommission in Prag tätig war und der auf beiden Seiten der deutsch-tschechischen Grenze beheimatet ist. Vieles von dem, was ich heute zu unserer Diskussion beitragen werde, schöpft zudem vom Vorteil einer gewissen Distanz, sozusagen einer Vogelperspektive, die mir mein gegenwärtiger Aufenthalt als Gastprofessor in den USA ermöglicht.

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union ist sicherlich im Moment das aktuellste Thema, was die Menschen in Bezug auf die laufenden Beitrittsverhandlungen der EU mit den Kandidatenstaaten bewegt. Ich verfolge seit einigen Jahren die Debatte in unseren Nachbarländern und bin mir vieler Ängste, Vorbehalte und teilweise natürlich auch Vorurteile bewußt, die in Deutschland und Österreich gegenüber den östlichen Nachbarn bestehen. Da ich sowohl in Deutschland als auch in Tschechien aufgewachsen bin, habe ich vieles von dem, wie man als “Ausländer” aus den europäischen “Osten” im deutschen Alltag aufgenommen wird, selbst erlebt. Dieser Gegensatz, der zudem aber voller Gemeinsamkeiten ist, prägt mein Leben und main Schaffen.

Wenn ich über deutsch-tschechische Beziehungen nachdenke, komme ich nicht umhin immer wieder feststellen zu müssen, daß sich bei vielen Menschen beim Blick nach Osten Bilder aus der Vergangenheit mit althergebrachten Vorstellungen vom im deutschen Sprachraum so sehr verbreitetem Begriff vom “Kulturgefälle” mischen. Der Zustrom von Flüchtlingen aus allen Herren Länder wird Sinngemäß mit der deutschen Ostgrenze in Zusammenhang gebracht, von woher scheinbar Instabilität und Unsicherheit droht. Obwohl dies zwar eine ziemlich unsinnige Vereinfachung der Gegebenheiten ist, die vor allem unter den Dunstwolken vieler Stammtische beheimatet ist, darf man, wie die deutsche Debatte über deutsche Leitkultur jedoch unlängst aufgezeit hat, die real existierenden Ängste vor Überfremdung im eigenen Land nicht einfach übergehen. Wir haben es hier mit tief verwurzelten Einstellungen und Überzeugungen zu tun, die bei weitem nicht exklusiv auf das Ausland beschränkt sind.

Aus einer fränkischen Perspektive brauche Ihnen hier in Berlin sicherlich nicht darüber vorzutragen, in welchen Niederungen sich gewisse Ansichten auf beiden Seiten der legendären Weißwurstgrenze zwischen Bayern und Preußen bewegen.

In Bezug auf eine Sichtweise aus Tschechien jedoch möchte ich hier sehr gerne einige Erfahrungen aus der Arbeit des deutsch-tschechischen Gesprächsforums, das unter der Leitung von Kommisar Günter Verheugen und dem Berater von Präsident Václav Havel, Herrn Pavel Tigrid am Ende der neunziger Jahre beachtenswerte Arbeit im deutsch-tschechischen Verhältnis geleistet hat.

Als jüngstes Mitglied in diesem erlauchten Personenkreis, dem so namhafte Persönlichkeiten, wie Hanns-Dietrich Genscher, Kurt Biedenkopf oder die deutsch-tschechische Journalistin Lída Rakušanová angehörten, hatte ich die Aufgabe und Möglichkeit neue Themen in die gemeinsame Diskussion einzubringen. Anstatt über alte Wunden zu diskutieren, war es meiner Ansicht nach notwending eine sachliche Diskussion über die gemeinsame Zukunft innerhalb der Europäischen Union zu beginnen und konkrete Bereiche, wie beispielsweise die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit in die Gespräche einzubringen.

Im Rückblick bleibt ein seltsamer Eindruck: obwohl die Arbeit und viele der Gespräche im Gesprächsforum sehr interessant waren, blieb doch auch die Feststellung, daß in diesem Forum im allgemeinen viel über die Notwendigkeit geredet wurde, daß gemeinsame Zukunft auch gemeinsam gestalten muß, konkrete Projekte aber oft an Ansichten und Einstellungen stehen blieben, die aus der Vergangenheit stammen.

Was bei der gemeinsamen Diskussion, die sich nun wieder in der Debatte um Arbeitnehmerfreizügigkeit widerspiegelt, oft vergessen wird und meiner Ansicht nach in Deutschland nicht genug Aufmerksamkeit findet, ist die Tatsache, daß sich in Tschechien die Gesellschaft in den letzten zehn Jahren dramatisch verändert hat. Sie mögen vielleicht einiges an Berichterstattung über unsere permanente Regierungskrise oder unsere wirtschaftlichen Fehlpässe bei der Bankenprivatisierung mitbekommen haben. Was allerdings zu Weihnachten der massenhafte Protest auf dem Wenzelsplatz und vor den Toren des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders Èeská televize aufgezeigt hat, ist daß Tschechien heute eine aktive Zivilgesellschaft hat, die sich nicht mehr willkürlich vom Willen der politischen Eliten gäöngeln läßt. Dies ist das Tschechien meiner Generation. Der erfolgreiche Protest um Weihnachten ist ein starkes Beispiel dafür, daß sich diese Generation nun zu Wort meldet. Es ist die selbe Generation über die man Anfang der neunziger Jahre hören konnte, daß sie es sein wird, welche das kommunistische Erbe letztendlich überwindet.

Diese Menschen muß man vor Augen haben, wenn man heute über Arbeitnehmerfreizügigkeit nach dem Beitritt im Jahr 2004 redet. Wir haben mittlerweile mehr als zehn Jahre Vorbereirtungsarbeit auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hinter uns. Der NATO Beitritt Tschechiens ist im März 1999 vollzogen worden, jetzt ist es an der Zeit, die EU Mitgliedschaft erfolgreich zu verwirklichen.

Ich möchte sicherlich nicht verschweigen, daß es noch viele Probleme gibt, die bis dahin überwunden werden müssen. Viele dieser Probleme haben mit unserer politischen Situation bei uns zu Hause zu tun. Ich lege aber große Hoffnung in die deutsch-tschechiche Partnerschaft gerade für die Bereiche, die wir nach dem Beitritt gemeinsam als Nachbarn anpacken können, sei dies wirtschaftliche Zusammenarbeit oder das Schengen-System. Um erfolgreich zu sein, brauchen wir gemeinsames Vertrauen. Dies wird gerade durch eine vernünftige Haltung bei der Freizügigkeit geschaffen, die Menschen zusammenbringt.

Es geht eben darum, jungen Menschen, die Lust und den Willen haben in der Europäischen Union ihre Chancen zu suchen, dies auch legal zu ermöglichen. In vielen Gesprächen, die ich während unzähliger Vertragsreisen über die Europäische Union in Tschechien absolviert habe, ist gerade die Freizügigkeit in der Europäischen Union ein Kernpunkt mit dem viele Menschen die Idee der Gleichberechtigung innerhalb der EU verbinden. Ich möchte hier unterstreichen, daß es sich dabei keineswegs um Leute handelt, die auf gepackten Koffern sitzen. Im Gegenteil. Es ist vielmehr ein Gefühl wie ”wenn ich wollte, dan könnte ich” was bei den meisten Menschen überwiegt. Im übrigen spiegeln diese Haltungen ziemlich exakt die Situation in den gegenwärtigen Mitgliedstaaten wider, wo sich die Binnenmigration in sehr bescheidenen Grenzen hält, für den betroffenen Einzelnen jedoch enorme Erleichterungen darstellt.

Mein wichtigstes Argument, daß ich daher anbringen möchte ist, daß es sich bei der gegenwärtigen Debatte über eine mögliche Gefahr von Massenmigration aus dem Osten vielmehr um ein politisch-psychologisches Problem handelt, als um ein reales Risiko für den Binnenmarkt. Lassen sie mich trotzdem auf den spezifischen Fall Deutschlands und Österreichs eingehen, wo sich gewisse Problembereiche wie beispielsweise beim grenzüberschreitenden Pendelverkehr und eventuell auch die Baubranche ergeben könnten.

Im Falle der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit läßt sich einer starken Zunahme der Berufspendler mit einer Übergangsregelung sicherlich vieles lösen. Im Falle der Baubranche denke ich, daß der eigentliche Problembereich bei der illegalen Arbeitnehmertätigkeit zu suchen ist. Man kann sicherlich bestehenden Problemen mit einem Übergangssystem auf der Basis von Lizenzen entgegenkommen. Jede solche Lösung birgt jedoch das Risiko in sich, daß man andererseits umso mehr der Korruption Vorschub leistet.

Ich möchte an dieser Stelle jedoch ein Lob und ein Zeichen der Anerkennung für das Feingefühl bei den Gesprächen in den Hauptstädten und an den EU Außengrenzen, sowie für das Verständnis der Problemlage an die Adresse von Kommissar Günter Verheugen aussprechen. Viel wichtiger, als die sofortige Freizügigkeit nach dem Beitritt ist es, die erste Erweiterung vor der Wahlen ins Europaparlament im Jahr 2004 abzuschließen. Es steht außer Frage, daß bei der gegenwärtigen Diskussion zwischen den Mitgliedstaaten und der Kandidaten ein funktionsfähiger Kompromiß von Nöten ist, der für beide Seiten akzeptabel ist.

Wie es Günter Verheugen in seiner Berliner Rede am 3. April hervorgehoben hat sollte auf der Basis ”Soviel Mobilität wie möglich, soviel Schutz wie nötig” eine abgestufte, intelligente und flexible Lösung ausgehandelt werden. Wie unlängst aus der gemeinsamen Stellungnahme der Verhandlungsleiter der Kandidatenstaaten zu vernehmen war, ist eine vollkommene Sperre der Freizügigkeit nach dem Beitritt unsinning, politisch nicht opportun und auch nicht sehr praktikabel. Statt dessen möchte ich unterstreichen, wird eine nach Sektoren und nach Staaten abgestufte individuelle Regelung, mit jeweils einzeln begründeten und zeitlich beschränkten Einschränkungen, viel nützlicher sein. Es muß auch zu einem Umdenken im Bezug auf Migration allgemein kommen. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Arbeitnehmern aus Nachbarstaaten, die legal ins Land kommen, arbeiten und Steuern zahlen und illegalen Arbeitskräften, die sich aufgrund eines starkem Wohlstandsgefälles in Deutschland befinden. Hier braucht es Offenheit und eine ehrliche Diskussion über die tatsächlichen Fragen. Populismus und Augenwischerei seitens einiger Politiker sind hier vollkommen fehl am Platz.

Die Erfahrungen mit den Arbeitsmarkt in den USA, die ich während meines einjährigen Aufenthaltes sammeln konnte, tragen eine deutliche Handschrift: gerade bei qualifizierten Arbeitnehmern ist eine Offenheit des Arbeitsmarktes enorm wichtig. Für den Wirstschaftsstandort Europa, dessen offener Arbeitsmarkt Deutschland eindeutig nutzt, sollte daher Arbeitnehmerfreizügigkeit auch mit den neuen Mitgliedstaaten zu einer Selbstverständlichkeit werden. Man darf nicht vergessen, daß seitens dieser Länder viel Arbeit geleistet worden ist, um dies zu erreichen. Aus meiner persönlichen Erfahrung möchte ich zudem hervorheben, daß gerade Deutschland in dieser Hinsicht noch viel ungenutzten Spielraum hat, um für qualifizierte Arbeitnehmer attraktiver zu werden. Es arbeitet sich eben viel besser in einem Umfeld, in dem man das Gefühl hat, daß man willkommen ist. In den USA ist diese offene Tür zur Integration traditionell ein elementarer Bestandteil der Kultur. Trotzdem erlaube ich mir zu behaupten, daß Deutschland gerade im Bereich der Kultur und der Lebensart im Vergleich mit den USA in vielerlei Hinsicht attraktiver sein kann. Vor allem dann, wenn Gastfreundschaft nicht penibel von erzwungener Leitkultur abhängig gemacht wird. Wenn ich den Spieß einmal umdrehe und an Škoda Auto in Mladá Boleslav oder an den multikulturellen Prager Arbeitsmarkt denke, kann ich aus der Erfahrung mit ausländischen Arbeitnehmern in Tschechien zu diesem Thema nur beisteuern, daß wenn man sich gut versteht, die Kultur ganz automatisch kommt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Pavel Èernoch, cernoch@policy.hu