Europa an den Ufern der Moldau
Deutschland und die Europäische Union aus tschechischer Sicht/Von Pavel Èernoch
Prag
Als ich neulich nach Deutschland fuhr, fragte mich eine ältere Dame im Zug, warum wir Tschechen so ein gottloses Volk seien. Während die Polen doch gute Katholiken seien, herrsche bei uns der blanke Atheismus. Ich begann meinen Versuch, ein wenig Farbe in dieses schwarz-weiße Bild zu bringen, mit der tschechischen Reformation unter Jan Hus im frühen 15. Jh, dem Prager Fenstersturz im Jahre 1618 und der kläglichen Niederschlagung der böhmischen Prostestanten durch die Katholische Liga bei der Schlacht auf dem Weissen Berg 1620. Ich wollte gerade noch etwas über den Widerstand gegen die Re-Katholisierung unter den Jesuiten in 17. Jh. sagen, als ich bemerkte, wie sich die Mine meiner Gesprächspartnerin bei dem Wort “Hussiten” in einer Weise verzog, die erahnen ließ, daß vor Ihrem geistigen Auge nicht etwa Bilder von Martin Luther und der Reformation vorbeizogen, sondern eher grausige Vorstellungen von asiatischen Horden von Hunnen, Türken, Tataren oder gar der Roten Armee.
Dieses Beispiel soll verdeutlichen, wie sehr die Bande Böhmens und der deutschen Lande historisch zurückreichen und dennoch, damals wie heute, oft von diametral verschiedenen Vorstellungen und Sichtweisen geprägt werden. Auf der anderen Seite war es gerade die Zeit von Jan Hus und der Renaissance, die für viele Gelehrte Europas eine Zeit der Mobilität, frischer Gedanken und neuer Entdeckungen wurde, eben so, wie wir uns das moderne Europa vorstellen. Böhmen war dabei immer ein enger Bestandteil dieses Europas der Bildung und der Wissenschaft und nimmt nun, nach dem der ideologische Dogmatismus der vergangenen Jahrzehnte verdrängt ist, wieder seinen angestammen Platz ein.
Dies soll ebenfalls ein kleines Beispiel für die Tatsache sein, daß lange historische Bindungen nicht einfach durch einen Zeitraum von 40 Jahren getrennt werden können. Der Zeitraum 1948-1989 prägte bei uns in Mitteleuropa ganze zwei Generationen, die sich heute allerdings selbst eingestehen, um es mit Václav Havel zu sagen, in einer abnormalen Zeit gelebt zu haben, die mehr einer Fiktion von Absurdistan gleicht, als einer dem europäischen Kulturerbe entsprechenden Normalität gerecht zu werden.
Dieses Mitteleuropa integriert sich heute in eine Europäische Union, die im Gewand von Normen und Verordnungen Stabilität und Rechtstaatlichkeit verspricht. Es ist allerdings nicht verwunderlich, daß sich heute auch viele Menschen in Mitteleuropa mit Nostalgie an eine vermeintliche Harmonie der Habsburgermonarchie zurücksehnen, in der alles seinen rechten Platz hatte und der Kaiser als ein von der höchsten göttlichen Instanz gesegneter Herrscher über seine Untertanen wachte. Mag aus heutiger Sicht der österreichisch-ungarische Vielvölkerstaat als ein Modell für die Einigung Europas erscheinen, sollte man jedoch in Sachen europäischer Gemeinsamkeit der damaligen Gedankenwelt nicht zuviel Gewicht zugestehen.
Ein eingängiges Beispiel hierfür mag ein aktuell aus der Mottenkiste der Geschichte hervorgeholtes altes Schlagwort sein, das vor 100 Jahren in bildlicher Darstellung viele patriotische Wohnzimmer zierte: “The Germans to the Front”. In einem Akt bis dahin ungesehener europäischer Einmütigkeit entsandten im Jahre 1900 die europäischen Großmächte ein multinationales Militäraufgebot nach China, um den dortigen anti-westlichen Boxer-Aufstand niederzuwerfen. Das kaiserliche Deutschland, um einen “eigenen Platz an der Sonne” in der damaligen Welt- und Kolonialpolitik ringend, sah die seitens des Britischen Empire eingegangene Aufforderung als einen Legitimitätsbeweis für das eigene Bestreben, eine eigene gewichtige Rolle an der Seite der europäischen Großmächte einzunehmen. Die Niederschlagung des Boxer-Aufstands begann zwar als gemeinsames europäisches Unterfangen, zerschlug sich jedoch an den diametral verschiedenen Machtinteressen der einzelnen Akteure, deren Streben statt in europäische Einingung in zwei Weltkriege mündete. Die Folgen dieser globalen Konflikte überzogen bekanntlich den europäischen Kontinent mit Krieg, Völkermord und Vertreibung von bis dahin unbekannten Ausmaßen.
Vor diesem Hintergrund muß man die Auswirkungen des heutigen europäischen Einigungsprozesses bewerten. Nach dem Sieg von Demokratie und Freiheit in Mittel- und Osteuropa Ende der 1980ger Jahre und den Reformbestrebungen der letzten zehn Jahre besteht für Europa und insbesondere auch für die jüngere Generation, welche fahnenschwingend und mit Schlüsselbünden klingelnd 1989 bei uns das Ende des Kommunismus eingeläutet hatte, ein “window of opportunity”, das nicht ungenutzt gelassen werden darf. Der europäische Kontinent hat eine in der Geschichte einmalige Gelegenheit, sich auf der Basis von demokratischen Prinzipien in Frieden, Partnerschaft und Prosperität zu einem einheitlichen Ganzen zu entwickeln. Die Geschichte lehrt uns, daß dies nur zu schaffen ist, wenn sich jeder einzelne über die eigene eng definierte nationale und nationalistische Sichtweise der Welt und sich selbst hinwegzusetzen lernt, wenn Offenheit und Neugier über Xenofobie und ideologisches Denken siegen können.
Dies ist vielleicht für uns, die in den letzten zehn Jahren in post-kommunistischen Gesellschaften aufgewachsen sind und die Brüche in den Seelen und Lebensläufen unserer Eltern und Freunde miterlebt haben, deutlicher, als im westlichen Europa. Für uns bedeutet der Begriff “Europa” noch in gewisser Weise Hoffnung auf eine gerechtere und bessere Entwicklung in unserer eigenen Gesellschaft in der wir leben. Für uns ist Europa noch etwas mehr als die pragmatische Idee des auf wirtschaftlichem Nutzen aufgebauten Binnenmarktes, mit all seiner geregelten Gesetzgebung und monetären Macht.
Es ist jedoch ebenfalls eine Tatsache, daß der europäische Einingungsprozeß nicht allein auf politischen Ideen aufgebaut worden ist und daß die heutige Europäische Union das Ergebnis einer langen Entwicklung ist, die auf vielen Kompromissen und kleinen Schritten basiert. Während die europapolitische Debatte in den 1980ger und 1990ger Jahren under dem visionären Kommissionspräsidenten Jacques Delors sehr stark auf die Vertiefung der Gemeinschaft und Konsolidierung des Erreichten fixiert war, trat im Laufe des Erweiterungsprozesses in den letzten Jahren immer stärker die Frage in den Vordergrund, welche Form und welche Rolle die Europäische Union in der Zukunft für das gesamte Europa haben soll.
In der tschechischen Debatte über Europa waren hierzu in letzter Zeit vor allem zwei grundlegend verschiedene Vorstellungen zu vernehmen. Die eine Sichtweise setzt sich für eine stärkere Föderalisierung der EU ein und fordert sowohl eine gewichtigere Rolle der EU nach außen, als auch eine stärkere Demokratisierung nach innen, insbesondere durch die Stärkung des Europäischen Parlaments. Am deutlichsten verkörpert diese Position in seinen Reden Staatspräsident Václav Havel. Die gegenläufige Vorstellung von einer eher auf wirtschaftlich pragmatische Vorteile beschränkten und politisch schwachen EU wird sehr stark an europapolitischen Vorstellungen der britischen konservativen Partei orientiert und beeinflußt die tschechische öffentliche Diskussion besonders aus wahlkampfstrategischer Sicht. Deren wichtigster Vertreter ist der ehemalige Premier und gegenwärtige Parlamentsvorsitzende Václav Klaus, der seinen transatlantisch geprägten Euronegativismus als scheinbar gesunden “Eurorealismus” zu Markte trägt. Als bevorzugte Alternativen zur EU Mitgliedschaft kann man aus seinem Umfeld etwa Vorstellungen hören, daß sich die Tschechische Republik eher an einer engeren Anbindung an die USA und an die NAFTA orientieren sollte.
Für die künftigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aus Mitteleuropa bleibt trotz aller Rhetorik ein grundlegendes Problem bestehen. Das Erbe der politischen, wirtschaftlichen und moralischen Deformation, welches das kommunistische System mit sich brachte, kann nicht und sollte wohl auch nicht einfach aus dem kollektiven Bewußtsein gestrichen werden. Dies betrifft insbesondere unsere zukünftige Rolle in der EU. Während im sowjetischen Einflußbereich an Experimenten von sozialistischer Utopie gebastelt wurde, begann im westlichen Teil Europas nach den katastrophalen Erfahrungen des zweiten Weltkriegs ein Prozess der Zusammenarbeit und der schrittweisen Versöhnung. Im Osten Europas, weitgehend ohne tiefgreifendere Wahrnehmung aus dem Westen, wurde spätestens seit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei im Jahre 1968 deutlich, daß sich das sozialistische Gesellschaftssystem unter permanenten Krisenbedingungen nur mit Gewaltanwendung aufrecht erhalten ließ. Es begann, wie es der ehemalige tschechoslowakische Außenminister Ji
øí Dienstbier ausdrückte, ein “Träumen von Europa”. Das Wertvolle, was dieses Träumen unter totalitären Verhältnissen schuf, läßt sich weder allein mit materiellen Werten messen, noch mit den Kopenhagener Kriterien, welche die Europäische Union 1993 als demokratische und marktwirtschaftliche Mindestanforderungen für die Kandidatenstaaten festgelegt hat.Wohl in keinem anderen mitteleuropäischen Land wird die Diskrepanz zwischen der Sehnsucht nach Normalität unter demokratischen Verhältnissen, einer “Rückkehr nach Europa” wie es Václav Havel Anfang der 1990ger Jahre formuliert hat, und der tiefsitzenden Skepsis über die genormte Normalität einer von Brüssel aus gesteuerten Europäischen Union deutlicher, wie in der Tschechischen Republik. Für viele Menschen in Tschechien, übrigens ähnlich wie in vielen Mitgliedsstaaten der EU selbst, hat ein Identifikationsprozeß mit einem EU-Europa noch nicht richtig begonnen. Die frischesten Zahlen vom November 2001, welche der Prager Ableger des Meinungsforschungsinstituts GfK anhand 1000 befragten Bürgern zusammengetragen hat, belegen dies wie folgt: Auf die Frage “Befürworten die die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der EU?” sagten 42% JA, 28% NEIN und 30% hatten keine Meinung (siehe Grafik). Eine wichtige Tatsache, die der Skepsis zu Grunde liegt und dem westlichen Beobachter oft verborgen bleibt, ist, daß für viele Menschen in Mitteleuropa der Alltag bereits ein hohes Maß an Normalität erreicht hat. Beispielsweise werden erfolgreiche Unternehmer, Ingenieure und Fachleute, die in den letzten Jahren eine sehr intensive berufliche und persönliche Entwicklung durchgemacht haben und heute auf einer gesicherten Existenzgrundlage stehen, sehr gereizt auf etwaige Kommentare westlicher Kollegen reagieren, die nachwievor eine Ost-West Sichtweise besitzen und nicht in der Lage sind, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik der Region zu erfassen. In Tschechien sind es vor allem die Symbole einer aufstrebenden Wirtschaft, die mit Erfolgsmarken wie Škoda Auto, Pilsner Urquell und Budweiser, den Mobilfunkanbietern Paegas, Eurotel oder Oscar ein neues tschechisches Selbstbewußtsein verkörpern und ein neues Image Tschechiens insbesodere durch erfolgreiche sportliche Leistungen wie etwa im Fußball oder Eishockey unterstreichen.
Die wirtschaftliche Aktivität und der damit verbundene Generationsbruch zwischen jüngeren, aktiveren Menschen und einer vom Staatssozialismus geprägten älteren Generation ist ein herausragendes Element einer neuen Tschechischen Republik, die als Mitgliedsstaat der Europäischen Union ihre vollen kreativen Kräfte entfalten werden kann. Trotz aller Skepsis bleibt daher auch innenpolitisch die Vorbereitung auf die EU Mitgliedschaft der größte und bei weitem stärkste Faktor für wirtschaftliche Modernisierung, Reformen der Verwaltung und die Bekämpfung der Korruption. Es herrscht auch Einvernehmen darüber, daß dies Probleme sind, die nicht über Nacht verschwinden können, die man jedoch systematisch angehen muß. In dieser Hinsicht ist die Mitgliedschaft in einer Rechtsgemeinschaft und einem einheitlichen Markt, der klare Regeln und Gesetze einfordert, eine entscheidende Garantie für den Fortbestand eines stabilen demokratischen Rechtsstaats, dessen weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung von internationaler Verflechtung beeinflußt wird und verhindert, daß das relativ kleine Land in einen selbstgefälligen Provinzialismus verfällt.
Schließlich sollte die besondere Rolle des deutsch-tschechischen Verhältnisses im Hinblick in der tschechischen EU Beitrittsdebatte in Tschechien nicht unerwähnt bleiben. Deutschland ist dabei aus tschechischer Sicht nicht gleich Deutschland. Aus tschechischer Sicht kann man zumindest drei Deutschlandbilder ausmachen, die alle auf grundsätzlich verschiedenen Erfahrungszusammenhängen beruhen. Zum einen ist da das böhmisch-bayrische Verhältnis, von jahrhundertealter Nachbarschaft geprägt und in den letzten Jahren von der Debatte über die vertriebenen Sudetendeutschen geprägt. Zum zweiten ist da das tschechisch-ostdeutsche Verhältnis, meist von schönen Ferienerinnerungen und gegenseitigen Bekanntschaften geprägt, die vor allem in einer Zeit entstanden, als die Tschechoslowakei für Bürger der DDR eines der wenigen zugänglichen Reiseländer war. Drittens ist es das offizielle Verhältnis zur Bundesrepublik, welches sich im Rahmen der bundesdeutschen Ostpolitik zu Beginn der 1970ger Jahre entspannte und zu einer gewissen Normalität in der Folgezeit führte, die für viele Menschen in der Tschechoslowakei durch Familienbindungen zu nach 1968 emigrierten Freunden und Verwandten eine konkrete Gestalt annahm.
Nach der Wiedervereiningung Deutschlands und der samtenen Scheidung Tschechiens und der Slowakei im Jahre 1993 ist das tschechisch-deutsche Verhältnis auf dem besten Weg sich zu einer echten Freundschaft unter Nachbarn auszuweiten. Es könnte gerade diese neu wachsende deutsch-tschechische Partnerschaft sein, die eine eigene Qualität in die künftige EU der 25 Mitglieder einbringen wird.
Der Autor unterrichtet europäische Integration an der Karls-Universität in Prag