Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.5.2002, Seite 13
"Beneš-Dekrete" aus tschechischer Sicht
Schnell in grossen Schwierigkeiten
Ihr Beitrag "Eine nationale Front" (F.A.Z. vom 25.April) zeigt leider erneut auf, wie sehr in der Debatte über die sogenannten "Beneš-Dekrete" zwei verschiedene Sachverhalte miteinander vermengt werden: einerseits die Enteignung und der Verlust der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft der in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen und andererseits deren Vertreibung nach 1945. Es steht heute außer Frage, daß man sich in Tschechien bewußt ist, daß bei der Vertreibung der Deutschen 1945/46 vielen unschudligen Menschen viel Leid zugefügt wurde. Dies ist ein wichtiger Aspekt in der wachsenden öffentlichen Debatte in Tschechien über die Vergangenheit und wird mittlerweile auch sehr deutlich im Schulunterricht thematisiert. Herr Kohler schreibt jedoch in seinem Beitrag: "Der Streit um die Beneš-Dekrete dreht sich nicht um Materielles, sondern um die Frage der Moral und des Rechts." Die gegenwärtige Fixierung auf die Dekrete trifft leider genau den Kern des Problems, denn die Dekrete regeln vor allem materielle Fragen wie Eigentum und Staatbürgerschaft und nicht, wie oft angenommen, die Vertreibung an sich. Es ist sehr wichtig diese beiden Sachverhalte auseinander zu halten, wenn man sich ernsthaft mit dem Vorschlag von Herrn Kohler beschäftigen möchte, mit einem tschechischen Parlamentsvotum "ex nunc" (also von jetzt an) die Rechtswirkung der Präsidentenverordnungen von 1945 aufzuheben.
Es ist wichtig aus der heutigen Sicht politisch und moralisch zu bekräftigen, daß Vertreibung an sich ein Unrecht ist. Will man dies jedoch auch rückwirkend rechtlich fixieren, muß man sich zwangläufig mit nationalen Gedankenmustern von 1945 auseinandersetzen und kommt dabei sehr schnell in große Schwierigkeiten.
Obwohl die rechtlichen Folgen der Dekrete nachwievor präsent sind, sind die Dekrete heute nicht mehr von rechtlicher Bedeutung. Man muß sich fragen, welchen Sinn und welche Folgen eine Aufhebung dieser Dekrete im Jahre 2002 haben würde. Aus tschechischem Rechtsverständnis muß eine Aufhebung der drei relevanten "Beneš-Dekrete" (2/45, 33/45 und 108/45), auch wenn nur symbolisch vollzogen, zwangsläufig rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Man kann sich gut vorstellen, daß langwierige rechtliche Streitereien über eventuelle Ansprüche 1945 enteigneter Deutscher kaum der heutigen deutsch-tschechischen Verständigung dienen würden. In diesem Licht ist daher der so deutlich einstimmige Beschluß des Prager Parlaments vom 24.April zu sehen.
Pavel Cernoch, Prag